Wer dem Glück nachläuft, rennt daran vorbei
"Glück entsteht oft durch Aufmerksamkeit in kleinen Dingen, Unglück oft durch Vernachlässigung kleiner Dinge.“
Wilhelm Busch
Bei den meisten wichtigen Anlässen, wie Geburts- oder Namenstagen, Festen und Feierlichkeiten aller Art, gehört es einfach dazu, sich Glück zu wünschen. Die häufigste Antwort auf diesen Wunsch lautet: „Danke, ich kann es gut gebrauchen.“
Mit anderen Worten: Wir wollen glücklich sein und setzen diesen Zustand auf Platz eins unserer angestrebten Ziele. Schauen wir aber genauer hin, was das Glücklichsein an sich sein soll, neigen wir in der Regel dazu, eine ganze Reihe von Zuständen und Ereignissen aufzuzählen, die sowohl individuell als auch gesellschaftlich ein gutes Leben ermöglichen sollen. Dazu zählen Gesundheit, unterschiedliche Formen von Beziehungen, tolle Berufschancen und natürlich ein gewisser Wohlstand, der in jedem Fall unsere Grundexistenz garantieren soll und der nach oben natürlich sehr offen ist.
Nun leben wir seit einigen Jahrzehnten in einem Land, in dem die Lebenserwartung sehr hoch ist und das Gesundheitssystem zu den besten der Welt gehört. Wir sind nahezu gänzlich frei darin, unterschiedlichste Arten von Beziehungen einzugehen oder diese auch zu beenden. Noch nie hatten wir solch einen offenen und häufig auch noch kostenlosen Zugang zu den vielfältigsten Ausbildungsgängen und waren auch noch nie so gut arbeitsrechtlich abgesichert wie heute. Mehr noch: Im Falle einer persönlichen Katastrophe sind wir gesellschaftlich und meist auch noch privat gegen alle möglichen Ein- und Ausfälle abgesichert, so dass in unserem Land niemand behaupten kann, er oder sie müsse um sein Leben bangen. Das war vor einigen Jahrzehnten noch ganz anders.
Noch nie in unserer Geschichte ging es uns, was die Verfügbarkeit der „Glückszutaten“ angeht, so gut wie heute. Milliarden Menschen auf der ganzen Welt beneiden uns um unsere Lebensumstände und gehen davon aus, dass wir zu den glücklichsten und zufriedensten Menschen zählen. Und gerade deswegen verblüfft umso mehr die Tatsache, dass wir uns sowohl statistisch, wie auch gefühlt, im Ranking der glücklichsten Nationen weit hinten platziert sehen. Ist das nicht bemerkenswert?
Vielleicht liegt einer der Gründe darin, dass wir ungeachtet dessen, was wir im Augenblick bereits leben und erleben, immer noch glücklicher werden wollen? Dass unser Blick viel zu wenig und viel zu selten eins ist mit dem was gerade geschieht und das Geschehen dadurch kaputt macht, weil wir das Geschehene mal wieder mit etwas „Besserem“ vergleichen, das wir schon mal erlebt hatten oder unbedingt erleben wollen? Kann es sein, dass das Glücklich-Sein-Wollen unsere Aufmerksamkeit fast immer von dem jetzigen Augenblick abzieht, so dass wir das meiste Geschehen erst dadurch ins Un-Glück bringen, weil wir es, gemessen an unserer Erwartung, für des Glückes nicht würdig genug halten?
Vielleicht stimmt der alte Spruch, wonach wir unseres Glückes Schmied wären, doch. Denn anstatt das Eisen zu schmieden, so lange es heiß ist, also in der Unmittelbarkeit, lassen wir es in der Ecke liegen und lassen uns mal wieder gänzlich durch die Vorstellung eines Umstandes besetzen, von dem wir uns endlich das wahre und natürlich auch noch dauerhafte Glück versprechen.
Vielleicht ist die Tatsache, dass wir leben das Glück schlechthin? Aber dann umfasst es Freude und Leid, Lust und Trauer, Begrüßung und Abschied, Krankheit und Genesung. Zu glauben, wir könnten nur einige, unserer Gewohnheit und Vorstellung zuträgliche Aspekte des Lebens erleben und die anderen ungeschehen machen, scheint gegen das Leben selber zu verstoßen. Und das Leben, durch uns selber verkörpert, reagiert prompt. Fühlt es sich ungelebt, lässt es uns unglücklich dastehen.
Also was tun?
Tun wir das, wozu uns das Leben selber jeden Augenblick einlädt und trauen uns etwas mehr und etwas länger das wahrzunehmen, was gerade geschieht.
Es grüßt Euch herzlich
Alexander
Liebevoller Umgang mit sich selbst und andere
ein Impuls von Doris Zölls
Als ich noch in der Schule arbeitete, prägte dort eine Lehrerin die Arbeitsatmosphäre. Obwohl sie bereits alt war, ging sie noch nicht in den Ruhestand, sondern wirkte weiterhin an der Schule, vor allem in der Lehrerfortbildung. Sie war so diszipliniert, kam als erste in die Schule und ging als letzte. Sie war stets gut vorbereitet, nie krank und nahm alle Aufgaben an, die anstanden. Sie genoss die Achtung und die Bewunderung aller anderen Kollegen und Kolleginnen. Jeder fühlte sich ihr unterlegen.
Eines Tages wurde ihr eine junge Lehrerin an die Seite gestellt, die ihre Nachfolge antreten sollte. Ich bemerkte bald, wie die junge Kollegin versuchte, ihr nachzueifern und sich dabei heillos überforderte. Sie konnte mit dem Arbeitspensum und auch dem Arbeitstempo nicht mithalten, wovon sie glaubte, dass das die ältere Kollegin von ihr verlangte. Mit der Zeit schlichen sich Krankheiten bei ihr ein. Es war grausam mit anzusehen, wie sie, um überhaupt zur Ruhe zu kommen und sich aus der Überforderung herausnehmen zu können, krank wurde. Zu sagen, „ich kann nicht so viel leisten“, wäre für die junge Lehrerin Schwäche gewesen, die sie sich gegenüber der älteren Kollegin nie zu zeigen getraute. Krankheit hingegen erschien ihr als triftiger Grund, bei dem sie sich nicht schuldig fühlen musste. Auf einmal bekam mein Bild von der so wunderbaren Lehrerin Risse. Ich merkte, dass ihre starke Haltung und ihre indirekte Erwartung, „die anderen sollen es genauso machen“, andere nicht nur schwach, sondern sogar krank machte.
Mir wurde auch bewusst, wie wichtig es ist, nicht nur einem Idealbild zu folgen, sondern, bei sich selbst zu schauen, wer bin ich und was möchte ich leben.
Dazu gehört - und das ist die große Herausforderung - sich selbst mit allem, und vor allem sich mit seinen „Schwächen“, kennen zu lernen. Das Wort Schwäche ist hier eigentlich nicht treffend. Wenn ich meine eigene Begrenztheit, meine Verletzlichkeit, meine „Unvollkommenheit“ annehme und zulasse, ist das gerade Stärke. Die alte Lehrerin hatte eine unendliche Kraft, immer wieder über ihre Grenzen zu gehen. Sie konnte sich keine Schwäche zugestehen, doch damit war es auch für alle in ihrem Umkreis nicht möglich, schwach zu sein. Die Stärke, nur für alle anderen da zu sein, alle Aufgaben zu erfüllen, wandelte sich zu einer Überforderung aller anderen. Mir wurde bewusst, wenn man zu sich so unnachgiebig ist, und das auch auf andere überträgt, wird man für seine Mitmenschen eine unbezwingbare Herausforderung.
Es geht nicht darum, seine „Unzulänglichkeiten“ auszuleben, doch ich darf sie nicht negieren, sie nicht verdrängen oder sie unterdrücken, denn damit werde ich hart mir und anderen gegenüber. Sie zu erkennen, mich anzunehmen als der, der eben dies oder jenes nicht kann oder ist, macht mich weich, auch meinen Mitmenschen gegenüber, denen es vielleicht genauso ergeht. Achte ich mich, ist es wie selbstverständlich, dass ich diese Wertschätzung auch dem anderen gegenüber aufbringe. „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“, sagte Jesus zu den Menschen. Er wusste genau, wenn wir uns selbst nicht annehmen können, gelingt uns dies auch nicht bei anderen. Ein liebevoller Umgang mit sich selbst ist einer der schwersten Wege, den wir beschreiten können. Ich darf mir nämlich nichts vormachen oder bei meinen „Schwächen“ wegschauen. Wer von uns jedoch möchte nicht dadurch hervorstechen, alles unter Kontrolle zu haben? Sich auszuhalten und sich nicht zu verurteilen, nichts zu verdrängen, sondern alle Seiten des Lebens in sich zu erkennen, ist die Voraussetzung für die Freiheit, mich weder zu knechten, noch Verdrängtes zu leben. Dies ist auf der einen Seite eine große Selbstfürsorge und gleichzeitig ist es auch die Fürsorge für alle Wesen. Sich wirklich zu lieben ermöglicht erst andere zu lieben.
One Million Acres Project
Staying Conscious in the Face of Adversity
Tagebuch einer besonderen Auszeit – Benediktushof Holzkirchen
Was unser Spiritueller Beirat in dieser Woche erlebt hat, welche Themen Doris Zölls, Daniel Rothe und Alexander Poraj bewegt haben, lesen Sie im Folgenden. Alexander Poraj hat zudem ein Video aufgenommen, in dem er dazu einlädt, die Fülle des Lebens zu erfahren und dem Anspruch „zu wissen, wo es lang geht und was richtig ist“ keinen Raum zu geben.
Neben unseren Online-Kursen, die gut angenommen werden, bieten wir ab 5. Mai auch gemeinsames Sitzen in Stille online an. Weitere Angebote und Infos vom Benediktushof - finden Sie wie gewohnt auf unserer Webseite.
Wir wünschen Ihnen alles Gute,
Ihr Benediktushof-Team
Pema Chödrön
Diese Worte von Pema Chödrön lesen sich sehr leicht, doch sie in den Alltag umzusetzen, bedarf einer großen Wachheit. Unser „Alltagsgeist“ ist ständig damit beschäftigt, sich vorzustellen, wie und wo es anders besser sein könnte. Unentwegt kommentiert er, was sich ändern soll. Sogar wenn es uns gut geht, ist er damit nicht zufrieden, sondern malt sich aus, wie man es noch verbessern oder es festhalten könnte. Manchmal sieht er das Glück nicht einmal mehr, sondern baut schon Ängste auf und überlegt, was zu tun ist, wenn es sich wieder zum Schlechteren wendet. Passen wir nicht auf diesen Geist auf und lassen solchen Gedanken freien Lauf, können wir nichts genießen. Diese Geistesstruktur ist so tief in uns verankert, dass wir nichts Schönes mehr wahrnehmen können, ohne dass sich der Mantel der Kritik darauflegt. Gewähren wir diesem Denken nicht Einhalt, verselbständigt es sich sogar und übernimmt die Macht. Im Alter wird es dann sehr deutlich, wie uns das Negative besetzt hält und wir ihm nicht mehr entkommen können. In Krisenzeiten ist dieser Geist besonders aktiv, nichts passt mehr, alles soll anders sein, alle machen alles verkehrt. Diese Gedanken haben mit der Wirklichkeit nichts zu tun. Sie sind Interpretationen, gefärbt durch die Brillen, durch die wir auf die Dinge schauen. Sie lassen uns leiden. Wer jedoch möchte das schon? Wir alle möchten glücklich sein. Pema Chödrön verweist darauf, welche Richtung wir einschlagen können, um diesem Teufelskreis des Leidens zu entkommen.
Wir sollten diesen nörgelnden Geist in die Schranken verweisen. Als erstes ist es wichtig zu erkennen, dass es eine Geistesstruktur ist und nicht die Wirklichkeit selbst. Dies bereits zaubert ein Lächeln auf unser Gesicht, denn wir haben diesen Geist als solchen entlarvt. Damit geschieht das Wunder. Die Negativität löst sich auf. Wir können wieder mit einem klareren Blick auf die Welt schauen. Jetzt ist sie nicht durchtränkt von dem, was alles nicht stimmt. Dankbarkeit und Freude werden sich in unserem Herzen breit machen und damit wird die Welt auch eine andere. Buddha wurde einst von seinen Schülern gefragt, wie man die Welt retten könnte und er meinte nur daraufhin: „Bekommt neue Augen“. Ich wünsche uns allen, dass wir diese neuen Augen entwickeln.
„Leben ist das mit der Freude und den Farben. Nicht das mit dem Ärger und dem Grau.“
Diesen Spruch schenkte mir eine Ärztin auf einer ganz bunten Karte. Ich habe sie eingerahmt, sie steht mitten in meinem Wohnzimmer und erinnert mich stets daran, zu leben.
Sondernewsletter des spirituellen Zentrums im Eckstein in Nürnberg
"Dies ist kein temporärer Bruch in einem sonst stabilen Gleichgewicht. Die Krise, die wir durchleben, ist ein Wendepunkt in der Geschichte. … Es ist nicht bloß die Gesellschaft, die sich schwankend anfühlt. Auch die Stellung des Menschen in der Welt tut es."
(John Gray, Philosoph, in einem Interview im New Statesman)
Liebe Freundinnen und Freunde des spirituellen zentrums,
gerne würde ich in diesen besonderen Tagen auch die Ärmel hoch krempeln und in die Hände spucken. – Oh, Gott. Halt! Habe ich das eben wirklich geschrieben: in die Hände spucken? Peinlich, peinlich. Gleich in der ersten Zeile gegen den Pandemie Knigge verstoßen. Also, alles nochmal von vorne, denn ja, ich nehme Corona ernst, sehr ernst. Aber nur allzu gerne würde ich derzeit auch mal locker in die behandschuhten Hände spucken, würde so gerne Aufbruchsstimmung verbreiten und easy in die endzeitliche Posaune blasen: Und „siehe, spricht der Herr, ich mache alles neu!“ (Offenbarung 21,5 ). Allein mir fehlt der Glaube, dass wirklich alles neu wird nach Corona.
„Aber, Herr, dann lass mich doch bitte wenigstens ein tolles Online Seminar oder ein Youtube Summit halten. Zum Beispiel darüber wie der Corona-Bewusstseins-Booster liebevolle Verbundenheit und mystische Einheitserfahrungen bis in die Köpfe der letzten neoliberalen Heuschrecke samt ihres bösen Hedgefonds Managers bläst. Die ganze Welt bekommt jetzt im Corona Fieber spirituelle Wadenwickel, wird von Kapitalismus und Egomanie geläutert, um spätestens nach Ostern geheilt aufzuerstehen.“ Das wäre mal eine Botschaft, ein gutes Evangelium.
Pardon, geht’s noch heftiger? - Offenbar nein! In Zeiten von „Tiefenkrisen“ (Matthias Horx), dem „9/11 und Pearl Harbor“ unserer Zeit (Jerome Adams bei Fox News) wird im Konzert der Medien zu Corona offenbar nur mehr gehört, wer im Superlativ die Trompete bläst. Die spirituellen Szenen sind darin nicht besser als manche Politiker und Medien, nur punktet man auf dem Markt „spiritueller“ Welterklärung weniger durch Kriegsrhetorik als durch geistige Großverheißungen, die uns über das kommende Heil nach Corona aufklären: „Ja, Corona ist schon schlimm, aber das es alles dient nur der Bewusstseinserweiterung und der allseitigen Einsicht in die gegenseitige Abhängigkeit aller fühlenden Wesen.“ – Krach bumm!
Die Krise gebiert gerade ihre Deutungshelden und Propheten – insbesondere dann wenn „Framings“ und „Narrative“ um die rhetorische Luftherrschaft kämpfen. Wer schert sich schon um soziale (und spirituelle) Wirklichkeiten, wenn es um volle Online Seminare, Clicks und den nachcorona Buchmarkt geht. Optimismus verkauft sich einfach besser als Krise. Dabei ist Geschäftssinn noch die kleinere Ursache für die übergroßen Erklärungsmodelle. In der Krise werden vielmehr die intellektuellen Versäumnisse, Denkblockaden und falschen Weltbilder überscharf sichtbar, die auch sonst strapaziert werden, wenn geistige Welten kleinformatiert werden. Das Feld wird uns alles lehren. Wenn es nur so wäre. Hugh!
„In Zeiten des Coronavirus“
Impuls zum Thema
"In Zeiten des Coronavirus"
von Alexander Poraj
ZEN-Meister
Seit einigen Tagen erleben wir, wie unser bislang gewohntes und sicheres Leben immer mehr durch einander gerät. Schulen, Universitäten, ja ganze Länder werden geschlossen, Reisen untersagt, die Regale leer gekauft und überall erhöhte Hygienemaßnahmen angeordnet. Es fällt uns nicht leicht zu sehen, was von den zahlreichen Aktionen sachlich wirklich sinnvoll ist und die gewünschte Wirkung entfaltet, und was Ausdruck von Angst, ja Panik ist. Und so reagieren manche von uns mit Schulterzucken und Unverständnis, andere jedoch mit panischen Hamsterkäufen und Rückzug in die eigenen vier Wände.
Deswegen ist es an der Zeit ganz persönlich inne zu halten, um nachzuspüren und zu überlegen, in welcher sachlichen und emotionalen Situation ich mich gerade befinde. Sowohl Schulterzucken und so weitermachen wie bisher als auch panischer Rückzug mit Horrorszenarien sind als Extremvarianten durchaus nachvollziehbar. Gleichzeitig jedoch spricht vieles dafür, dass dies eben nicht zu den adäquaten Reaktionen gehört. Beide Verhaltensweisen zeigen nämlich wenig Kontakt zur Realität, indem sie diese entweder ignorieren oder aber unsere Verbindung und Vernetzung mit anderen Menschen außer Acht lassen.
Was also tun? Auf der einen Seite müssen wir uns dem Wissen und den Anordnungen der Experten und Behörden fügen und sie ernst nehmen, um die weitere Verbreitung des Virus zu verlangsamen. Das gilt jetzt auch für den Kursbetrieb am Benediktushof, den wir ab 16.März bis zunächst Anfang April einstellen.
Damit wir jedoch unsere Mitmenschen und uns selbst nicht aus den Augen verlieren und in Panik geraten, sollten wir uns ganz bewusst der Angst stellen. Wenn diese Angst unbeachtet zur Panik wird, macht sie uns blind für die Mitmenschen und die eigentliche Sachlage.
Ja, es ist richtig, dass uns gerade diese Situation vor Augen führt, wie fragil nicht nur unsere Gesundheits- und Wirtschaftssysteme sind, sondern vor allem wir selbst.Trotz zahlreicher Errungenschaften erleben wir, dass wir das Leben nicht unter Kontrolle haben. Das bedeutet auch, dass es - allen Maßnahmen zum Trotz - keine absolute Sicherheit geben kann und geben wird.
Wir sind immer schon auf das aufmerksame und besonnene Entgegenkommen unserer Mitmenschen angewiesen. Dies funktioniert aber nur dann wirklich, wenn wir selber in der Lage bleiben, uns besonnen und entgegenkommend zu verhalten. Daher gibt es auch keinen wirklichen 100%igen Schutz, weil wir die Unterstützung, Hilfe und evtl. auch Pflege unserer Mitmenschen benötigen.
Somit wird von uns allen Umsichtigkeit verlangt, eine Haltung, welche die Angst nicht negiert oder herunterspielt, sondern sich geradezu darin zeigt, die persönliche und kollektive Angst in eine neue Haltung zu verwandeln, die sich als eine erhöhte Aufmerksamkeit, Wachheit und Mitmenschlichkeit zeigt - gerade in der Begegnung mit der Unsicherheit des Lebens an sich.
Welch eine Herausforderung für den Alltag unserer kontemplativen Haltung!
Mitgefühl, Weisheit und viel Humor
Impuls zum Thema "Mitgefühl, Weisheit und viel Humor" von Zen- Meisterin Doris Zölls, spiritueller Beirat am Benediktushof
„Das Wesen des Humors ist Empfindsamkeit, ein warmes, zartes Mitgefühl für alle Formen des Daseins. Wenn die Empfindsamkeit nicht gereift und gereinigt wird durch Humor, geht sie leicht irre, wird krankhaft, unwahr, mit einem Wort, sie artet in Sentimentalität aus.“
Thomas Carlyle (1795 - 1881)
Der schottische Philosoph Thomas Carlyle nimmt das Thema, über das heute mein Impulstext gehen soll, bereits wunderbar auf. Mitgefühl, Weisheit und Humor. Diese Begriffe erscheinen auf den ersten Blick für sich zu stehen. Der zweite Blick jedoch zeigt, sie stehen nicht neben- oder nacheinander. Sie fallen im Erleben zusammen.
Der große Zen-Meister Hui Neng beschrieb einmal Mitgefühl als die radikale Akzeptanz dessen, was ist. Damit meinte er nicht, dass wir alles für gut halten sollen. Mitgefühl ist für ihn die Annahme des Lebens, wie es ist, bevor wir es mit unseren Bewertungen und Urteilen eingeordnet und festgelegt haben. Vorlieben und Abneigungen bestimmen immer unser Denken. Doch dieses Denken begrenzt uns, es versperrt uns die Sicht auf die Dinge, wie sie wirklich sind.
Wir sehen durch die Augen des Urteilens nicht, wie alles miteinander verwoben ist, das eine das andere bedingt und nichts festgeschrieben werden kann, da es sich unentwegt wandelt. In der Meditation versuchen wir, hinter diese bewertenden Augen zu gehen, alle Phänomene erst einmal stehen zu lassen, sie nicht gleich festzulegen. Können wir all das, was erscheint, einige Zeit halten ohne zu urteilen oder zu kommentieren, werden wir erleben, wie sich uns eine viel weitere Dimension eröffnet, als wie sie unser Denken erfassen kann.
Auf einmal können wir dieses Eins-Sein von allem erleben. Es entsteht ein tiefes Sehen und Erkennen, aus dem heraus ein Annehmen und ein Sich-Einfühlen in das was ist folgt. Diese Sichtweise frei von Bewertungen ist weise. Sie eröffnet einen völlig neuen Horizont des Verstehens. Zeichnen sich weise Menschen nicht dadurch aus, dass sie mit einem gütigen Blick auf die Welt schauen können, eben weil sie nicht sofort werten? Ihr Blick erkennt und kann zulassen.
In der Weisheit lebt das tiefe Vertrauen, dass alles ineinander spielt und, wie es in Rilkes Gedicht „Herbst“ zum Schluss heißt: „... doch ist Einer, welcher dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält.
Mitgefühl ist Weisheit und Weisheit ist Mitgefühl. Beide sind fähig in uns die Spannungen, die durch unser Wollen und Festhalten entstanden sind, zu lösen. Sie verschaffen Erleichterung, zaubern ein sanftes Lächeln auf unser Gesicht. Gelassenheit tritt ein, ein kleiner Schalk schleicht sich in die Augen, eben Humor, der aus diesem Vertrauen genährt wird, dass alles seinen Platz und seine Zeit hat, nichts ausgeschlossen, nichts verloren ist.
Mitfühlende Weisheit bringt Humor hervor. Er löst die festgeschnürten Banden unserer Urteile, schenkt die Leichtigkeit der Veränderung und damit Befreiung. Fehlt die Leichtigkeit, wird das Mitgefühl nicht wirklich in seiner tiefen Weisheit erlebt. Entweder sie wird schwer und niederdrückend oder, wie Carlyle es nennt, zu einer oberflächlichen sentimentalen Stimmung. Mitgefühl und Humor gehören daher zusammen. Sie sind der Ausdruck von Weisheit, die uns alle durchdringt und die sich uns in dem Moment zeigt, in dem wir still werden und geschehen lassen können, was ist.
Impuls zum Thema „Meditieren mit App und Smartphone“ von Zenmeister Alexander Poraj, spiritueller Beirat am Benediktushof
„Die Jugend von heute ist verdorben, sie ist böse, gottlos und faul.
Sie wird niemals so sein, wie die Jugend vorher,
und es wird ihr niemals gelingen, unsere Kultur zu erhalten.“
Keilschrift, Chaldäa, um 2000 vor Christus
„ich habe überhaupt keine Hoffnung in die Zukunft unseres Landes, wenn einmal unsere Jugend die Männer von morgen stellt. Unsere Jugend ist unerträglich, unverantwortlich...“
Aristoteles, 384-322 vor Christus
Als Erstes wünsche ich Ihnen und Euch ein gesundes Neues Jahr mit einer guten Prise an Mut und Freude, sich auf Neues und Unbekanntes einzulassen, weil es ständig an unsere Türen klopft.
Und damit bin ich schon mitten im Thema: Haben Sie anhand der Zitate bemerkt, wie alt eigentlich die Unzufriedenheit der jeweiligen älteren Generation mit der nachfolgenden ist? Genau. Sie ist wohl genauso alt wie die Menschheit selbst. Wir waren wohl nie wirklich offen dafür, wie die neuen Generationen ihr Leben gestalten. Wie kommt das?
Wir wären durchaus offen für Neues, allerdings mit einer entscheidenden Einschränkung: das Neue möge sich doch bitte ins Alte einfügen und bloß nicht versuchen, es infrage zu stellen. Am besten wäre es für uns Alten, wenn das Neue lediglich das ändern würde, was uns eh nicht passt. Alles andere gilt als Unfug und gewöhnlich raten wir unseren Kindern davon ab. Gott sei Dank mit sehr geringem Erfolg.
Und warum reagieren wir auf Neuerungen so ablehnend? Weil wir nicht bemerkt haben, dass wir an dem „Alten“ hängen. Es macht uns etwas aus. Es ist unsere Gewohnheit und damit Teil unserer Identität. Wird diese unsere Identität von den Entwicklungen nicht ausdrücklich unterstützt, so fühlen wir uns persönlich betroffen, getroffen, ja sogar infrage gestellt oder angegriffen. Das ist der Kern eines jeden Generationskonflikts, der eben so alt ist, wie die Menschheit selbst. Die „Neuen“ und das „Neue“ wurden immer schon verdächtigt, nicht gut genug zu sein und letztlich Unfug zu betreiben. Erinnern wir uns doch bitte an unsere Jugendzeit und die Diskussionen mit unseren Eltern oder Großeltern. Kamen sie uns nicht immer wieder unbeweglich, altmodisch, verstaubt oder gar ängstlich vor?
Nun aber sind die allermeisten von uns selbst Eltern oder Großeltern geworden und plötzlich hat sich unsere Perspektive unbewusst, jedoch entscheidend verändert. Jetzt vertreten wir gegenüber den jüngeren Generationen das einzig Wichtige und Richtige. Mehr noch: Das Tempo der Veränderungen bewegt sich nicht mehr von einer Generation zur nächsten, sondern findet innerhalb einer einzigen Generation statt. Plötzlich erleben wir mehrere Innovationen innerhalb unseres Lebens, wobei wir an den meisten sogar irgendwie beteiligt sind, wenn nicht direkt, dann spätestens dadurch, dass wir Zinsen, Renten, Lebensversicherungen und vieles mehr erwarten. Aber noch deutlicher gesagt: Wir werden, auch gegen unseren Willen, immer schneller mit den unzähligen Neuerungen konfrontiert, ob es uns passt oder eben nicht. Dafür werden die „Jungen“ schon sorgen, genauso wie wir es gemacht haben. Und wie reagieren wir darauf? Wir tendieren dazu, uns in unseren bisherigen Gewohnheiten zu verschanzen. Mit guten Argumenten natürlich. Wir sind es, die schließlich seit Jahren und Jahrzehnten meditieren und wir wissen, was dafür notwendig ist oder nicht. Das moderne Zeug wie Meditations-Apps, YouTube-Kanäle und vieles mehr haben wir nie gebraucht und deswegen – so unsere gängige Schlussfolgerung – sind diese Dinge, wenn überhaupt, dann als kaum ernst zu nehmende Modeerscheinungen einzustufen.
Natürlich möchte ich an dieser Stelle keine Werbekampagne für die Anbieter solcher Produkte machen. Was ich aber durchaus möchte, ist darauf hinzuweisen, dass wir den neuen Generationen gestatten sollten, sich so zu organisieren, wie sie es für sich können und wollen. Eine App, ein Smartphone oder Tablet sind nicht an sich gut oder schlecht, sondern auch hier kommt es auf den Gebrauch an. Internetportale, Dank welcher z. B. gemeinsames Meditieren und Reflektieren möglich ist, auch über die stattgefundenen direkten Begegnungen hinaus, erfreuen sich einer wachsenden Beliebtheit und drücken unsere Art zu sein und zu kommunizieren aus. Und wenn eine App uns mitten am Tag mit einer kleinen Besinnung wachrüttelt, dann könnten wir dies auf jeden Fall mit einem dankbaren Augenzwinkern annehmen, oder? Millionen von Menschen tun dies bereits und wer weiß, vielleicht bedient sie der junge Verkäufer an der Tankstelle gerade deswegen so freundlich, weil ihn gerade seine Applikation daran erinnert hat, den soeben vor ihm stehenden Menschen, in dem Fall also Sie, einzigartig zu finden?
Apps sind da. Ebenso Tablets und Laptops und damit ein Zugang zu einer Menge von unsinnigen aber eben auch interessanten, wertvollen und unterstützenden Angeboten. Lasst uns doch wach, kritisch und etwas mehr großzügig sein. Das Leben findet immer seinen Weg, auch wenn dieser mit unseren Vorstellungen mal wieder nicht übereinstimmt. Die neuen Generationen erkunden und gestalten ihn bereits.
Es grüßt Euch herzlich
Alexander
Zen-Impuls von Paul J. Kohtes
“Die on your cushion”
Suzuki Shunryū Roshi (1905 – 1971)
Das fängt ja gut an, „Stirb auf deinem Kissen“. Irgendwie verdichtet sich ja die Idee, dass wir alle in einem ziemlich rasant verlaufenden globalen Veränderungsprozess sind. Aber wir wissen nicht, was das konkret bedeutet. Niemand von uns kann das Klima retten. Niemand von uns kann den überfälligen Systemwandel des Kapitalismus hinkriegen. Niemand von uns weiß wirklich, wohin die Reise geht.
Das Jahr fängt gut an, oder?
Ich kann das nur aushalten, wenn ich mich dem Sinn, der hinter all dem ist, ausliefere. Welcher Sinn könnte denn nun hinter all diesen Unsicherheiten und Transformations-Bedrohungen stecken? Change or die ...
Heute wissen wir sehr viel über die Entstehung der Erde, ihre Entwicklung über Millionen von Jahren und die Entstehung von Leben bis hin zu uns Menschen. Dieser ganze Prozess ist von einer endlosen Kette vermeintlicher Zufälle geprägt, die sich in der Gesamtschau als genial erweisen. Milliarden solcher „Zufälle“ hat es gegeben, damit der Mensch überhaupt entstehen konnte. Wir sind damit Teil einer kosmischen Dynamik, die sich letztlich immer als sinnvoll erwiesen hat.
Katastrophen und Absterben waren stets Teil dieser Dynamik. Aber eben auch Teil dieser endlosen Kette von Weiterentwicklung. Jeder von uns ist ein Glied in dieser Kette. Die Illusion, das eigene Leben in der Hand zu haben, schützt uns vielleicht vor der Resignation. Aber letztlich ist sie ein ‚man made‘ Konstrukt, so wie ein Film, in dem wir selber mitspielen. Da ist es gut, sich immer wieder einmal in den Sessel des Kino-Raumes zu setzen und sich selbst bei dem Stück zuzusehen, ein Stück, das ständig wechselt zwischen Drama, Action, Lovestory, Klamotte ... Wir sehen dann, dass wir nicht nur Spieler sind, sondern vor allem auch Gespielte.
Und dann, im Kinosessel zu sterben, ist doch auch eine interessante Alternative zu Suzuki.
2020, the show must go on ...
Gassho
Paul
P.S.: Nächster Kurs Zen for Leadership vom 2. bis 5. Februar 2020 - Zur Anmeldung
Zen & Yoga mit Paul Kohtes in Düsseldorf, samstags von 9.30-12.30 Uhr - nächster Termin: 8. Februar 2020. Anmeldung und Information bei Britta Averbrock: britta@averbrock.eu
Podcast "Im Fluss des Lebens sein" mit Paul J. Kohtes
iTunes | Spotify
NEU in der healing formula App: Schlafgeschichte "Bärenhöhle" Kostenlos ausprobieren >>>
Hörbuch von und mit Paul Kohtes: Meister Eckhart - 33 Tore zum guten Leben - Weitere Informationen
Stille Nacht
Mensch, erkenne deine Würde!
Du bist der göttlichen Natur teilhaftig geworden,
kehre nicht zu der alten Erbärmlichkeit zurück und
lebe nicht unter deiner Würde.
nach Leo der Große † 461
Wenn es Weihnachten nicht gäbe, würde nicht wenigen Menschen viel Stress um den 24. Dezember erspart bleiben. Allerdings bestünde dann auch nicht die Gelegenheit für das Schöne zu Weihnachten. Und es gäbe nicht die Möglichkeit, den Fokus des eigenen Bewusstseins so verschieben zu lassen, wie es die „Stille Nacht“ ermöglicht.
Denn im Alltag ist dieser Fokus oftmals eindimensional ausgerichtet: auf das Erleben von Stress und Hektik, Sorge und Scheitern, Frustration, Krankheit, Perspektivlosigkeit, Ungerechtigkeit, Angst, Aggression und Ohnmacht. Mitunter ist der Fokus auch gar nicht klar. Da ist nur etwas, was sich dumpf und fremd anfühlt.
Das Leben schrumpft dann auf diesen kleinen Ausschnitt der Wirklichkeit zusammen. Unbestritten ist das zwar alles wirklich, aber das ist nicht die gesamte Wirklichkeit. Zumindest spricht davon die Erfahrung der „Stillen Nacht.“
Innerhalb des christlichen Symbolsystems wird von dieser Erfahrung in unzähligen Bildern gesprochen.
Zu Weihnachten, in der Feier der „Stillen Nacht“, kommt dabei vor allem ein Bild in den Blick: die Geburt des Kindes in der Krippe. Und was von diesem ohnmächtigen Kind erzählt wird, wird eigentlich von jedem Menschen erzählt. Da ist nicht nur Ohnmacht und all das, was Menschen verzweifeln und leiden lässt.
Leben ist Mehr. Von diesem Mehr wird seit Jahrtausenden im Bild der göttlichen Wirklichkeit gesprochen. Wie dieses Kind zugleich ohnmächtig und göttlich ist, ist dies auch jeder Mensch: ohnmächtig und göttlich.
Die Alltagswirklichkeit suggeriert aber, dass das Bild des Göttlichen zwar nett sei, die Wirklichkeit aber nun mal durch die Bilder der Ohnmacht abgebildet wird. Die sei schließlich real. Was wäre aber, wenn der eigenen Erfahrung Vertrauen geschenkt würde, die dieses Wirklichkeitsverständnis infrage stellt? Was wäre, wenn das eigene Bewusstsein auch durch das Bild der Göttlichkeit im eigenen Inneren bestimmt würde?
Innere Bilder besitzen eine enorme Kraft. Sie verändern die Welt. Das geht sowohl in die Richtung Ohnmacht als auch in die Richtung der göttlichen Wirklichkeit. Je nachdem welchem Bild Raum eingeräumt wird, schafft es Wirklichkeit. Und, gibt es nur Grund den Bildern der Angst und Ohnmacht, den Bildern des Scheiterns und der Verzweiflung zu vertrauen? Gibt es nicht auch Grund den Bildern, die von der göttlichen Wirklichkeit sprechen, zu vertrauen?
Das Potential der „Stillen Nacht“ geht jedenfalls in diese Richtung. Es will korrigieren und motivieren. Um auch für jene Seite der Wirklichkeit sensibel zu werden, die das Kind in der Krippe symbolisiert. Wie das konkret gehen kann, die göttliche Wirklichkeit nicht aus dem Fokus zu verlieren oder sie überhaupt in den Blick zu bekommen, zeigt sich in den vielfältigen spirituellen Traditionen. Ich muss wählen, was für mich passt.
Weihnachten ist jedenfalls eine Möglichkeit dafür. „Untiere“ bleiben Menschen trotz allem. Der Blick auf die Gräueltaten in den täglichen Nachrichten zeigt dies überdeutlich. Aber indem der Fokus des Bewusstseins vom Bild der Ohnmacht zum Bild der Göttlichkeit verschoben wird, kann sich das eigene Erleben verändern. Auch das Bewusstsein für die Mitmenschen kann anders werden. Und vielleicht reicht diese Bewusstseinsveränderung auch noch für die tierische Mitwelt aus.
Ochs' und Esel werden's danken. Stille Nacht, heilige Nacht.
Impuls zum Thema „Selbstzweifel – Die Angst nicht gut genug zu sein“
„Wie ist das klein, womit wir ringen, was mit uns ringt, wie ist das groß; ließen wir, ähnlicher den Dingen, uns so vom großen Sturm bezwingen, -wir würden weit und namenlos.“
Rainer Maria Rilke
Wie ist das klein, womit wir ringen – wie übermächtig erscheint es uns. Wir ringen immer mit uns selbst, vielmehr mit unserem Selbstbild. Das, geboren aus vielfältigen Erfahrungen, oft übergroße Schatten wirft.
Es beginnt alles mit einem „Blauen Baum“. Der blaue Baum ist natürlich eine Metapher, lediglich ein Symbol, und doch ist es eine wahre Begebenheit, die ich als Beispiel erzählen möchte. Vor annähernd 35 Jahren gab es im Kindergarten unserer Töchter einen fröhlichen kleinen Jungen, der selten ohne einen Stift in der Hand anzutreffen war. Seine ganze Leidenschaft war das Zeichnen und Malen. Es entstanden außergewöhnliche Bilder mit einer Klarheit der Formen, die sehr erstaunlich war. Dann kam das neue Kindergartenjahr… und mit ihm eine neue Erzieherin.
Der Junge wurde still und stiller, und es dauerte einige Zeit, bis die Tiefe der Bedeutung einer sich täglich wiederholenden Situation den Eltern und anderen Erwachsenen bewusst zu werden begann. Der Junge malte täglich einen bestimmten, an der Form klar zu erkennenden Baum, immer blau. Die Erzieherin zerriss Tag für Tag das Bild des blauen Baumes mit den Worten: „Blaue Bäume gibt es nicht.“
Mit diesen Worten transportierte sich die Aussage „Du bist falsch“. Er legte die Stifte weg und weigerte sich fortan zu zeichnen und zu malen. Die zu diesem Zeitpunkt unwiderrufliche Erfahrung von „falsch sein“ manifestierte sich und begann ihre traurige Wirkung zu entfalten. Allein beim Schreiben erinnert sich die Trauer um zerstörte Begeisterung und Begabung.
Wir alle kennen einen „Blauen Baum"... und er kann unsere Selbstzweifel bis hin zur Verzweiflung füttern.
In der ständigen inneren Wiederholung der Selbstzweifel findet eine Erstarrung statt, die sich dem Leben in seiner Vielfalt verweigert. Gefangen in der Ver-Zweifel-ung ist es nicht mehr möglich, die Wirklichkeit von der Illusion unserer Vorstellungen zu unterscheiden. In dieser Form der Selbsterniedrigung findet im Grunde eine Selbstüberhöhung statt:
Alles wird durch die Brille der Selbstzweifel gesehen und durch die innere Haltung von Misstrauen in Bezug zum Ich gesetzt. Die Welt beginnt sich in einer sehr destruktiven Form allein um die eigene Person zu drehen. Nicht um zum Glück zu gelangen – sondern um das aus zerstörender Kritik und Ablehnung entstandene Zerrbild aufrecht zu erhalten und zu bestätigen. Diese Art von Schattenboxen gegen sich selbst kostet unendliche Kraft und mündet nicht selten in eine tiefe Erschöpfung… in eine Lebensmüdigkeit.
Sich dem Leben zu überlassen, das Sich-Selbst-Kleinmachen beenden, das ständige in Bezug setzen sein lassen, wie kann das gelingen?
Es kann allein in und mit diesem Augenblick jetzt beginnen. Was auch immer mit uns geschehen ist, als das Bild des "Blauen Baumes" zerrissen wurde, es ist nicht möglich dieses zerrissene Bild vollständig auszulöschen – aber - es ist möglich den "Blauen Baum" erneut zu malen… Jetzt. Es braucht Mut, ja. Mut, die Brille der Selbstzweifel abzunehmen und sich auf das, was jetzt ist, einzulassen. Sich dem Leben, wie es jetzt ist, anzuvertrauen. Dieser Mut, dieses Vertrauen in den Augenblick, in das Leben, ist das, was wir zutiefst sind… jenseits der Angst... „weit und namenlos“.
Petra Wagner, im Oktober 2019