Impuls zum Thema "Kreativität als spirituelle Praxis"
von Petra Wagner, Mitglied der spirituellen Leitung der Kontemplationslinie
„Das WIE ist wesentlicher als das WAS.“
Prof. (FL) Heribert Losert
Dieses Zitat meines ehemaligen Professors für Aquarelltechniken sagt in wenigen Worten, worum es in der Kreativität, aber auch in der Spiritualität und vor allem im Leben geht. Das WIE steht für die innere Haltung, die Ausrichtung des Geistes, mit der die Übung vollzogen wird. Das WAS für die Erwartung, das Wollen, das Ziel, das es scheinbar zu erreichen gilt.
Es gibt eine wunderbare Übung in der Aquarellmalerei, die diese beiden Aspekte auf sehr herausfordernde Weise sichtbar werden lassen kann. Die Blauübung, auch „Kristall“ genannt. Die meisten Waldorf-SchülerInnen kennen sie (H. Losert hat sie in den 60er Jahren, während seiner Arbeit als Dozent der Rudolph-Steiner-Schule München, entwickelt) und erlernen mit ihr eine Technik des Aquarells, die Lasur. Das Offensichtliche, Schicht um Schicht eine Farbe aufzutragen und so ein Bild entstehen zu lassen und mit dem Lasieren auch die Beschaffenheit und Reaktion der Wasserfarbe zu erfahren, dient dem Kunstunterricht. Das Wesen dieser Übung ist jedoch ein zutiefst kontemplatives.
Diese eine Lasur, diese eine Form, dieser eine Pinselstrich – Jetzt. Allein dieser eine Pinselstrich Jetzt ist die Gestaltungsmöglichkeit der Form, der Farbe und damit letztendlich des Bildes, denn die Blauübung hat kein Korrektiv. Eine Lasur, die aufgetragen ist – Ist. Die Idee, die einmal gesetzte Lasur zu korrigieren, weil sie nicht den eigenen Erwartungen entspricht, bestraft sie mit Wasserflecken oder merkwürdigen sichtbaren Dunkelheiten, Strichen oder Leerstellen. Der Versuch, das Vergangene zu ändern, scheitert immer. Es gilt, mit dem was ist, weiterzugehen. Der nächste Pinselstrich – Jetzt. Die Aufmerksamkeit genau hier bei diesem Pinselstrich, bei dieser Form, dieser Lasur und sie darf sein, wie sie genau jetzt entsteht. Jenseits des Wollens, jenseits der Vorstellung was entstehen soll. Mit dieser inneren Haltung weben sich alle scheinbaren Unebenheiten auf wundersame Weise ein und es entsteht – Lasur um Lasur – ein Bild, das immer heller werdend, eine Ahnung von Weite und Tiefe zugleich vermitteln kann.
Die Blauübung verzeiht alles und zugleich nichts. Alles, da sich Lasur um Lasur auch eine etwas andere Form oder Farbabweichung harmonisch einwebt. Nichts, da bis zum letzten Pinselstrich die Möglichkeit besteht, die Arbeit zu ruinieren.
Wie bin ich da ... WIE…. nicht WAS will ich malen, machen. Kein Ziel, keine Vorstellungen, nur dieser Pinselstrich in diesem Augenblick. Die spirituelle Übung wie das Stille Sitzen oder das Gehen fördert und fordert genau diese innere Haltung. Die Kreativität ist spirituelle Übung mit der Möglichkeit, ein unbestechlicher Spiegel zu sein. Sie macht sichtbar, in dem sie Ausdruck findet. Es gibt kein Beschönigen, kein Ausweichen, keine Möglichkeit „zu tun als ob“, denn es hat Gestalt gefunden und spiegelt die innere Haltung sehr genau im Äußeren, auf dem Papier, der Leinwand, in der Materie.
Das ist der Sinn der Kreativität als spirituelle Übung, das Sichtbarwerden des Wie, ohne die Möglichkeit der Vertuschung, der Flucht. Seit annähernd 30 Jahren ist die Blauübung meine ständige Wegbegleitung und unbestechliche Meisterin. Wann immer die Hand den Pinsel greift, ist unmittelbar spürbar, wie es jetzt ist. Auch dieses Spüren lassen und ganz Pinsel, Farbe, Form und Papier sein. Ohne Wollen, ohne Vorstellung, ohne Ziel.
„Auf die Haltung allein kommt es an.
Denn nur sie allein ist von Dauer und nicht das Ziel, das nur ein Trugbild des Wanderers ist,
wenn er von Grat zu Grat fortschreitet,
als ob dem erreichten Ziel ein Sinn innewohnte.“
Antoine de Saint-Exupéry
P.S. Die Blauübung, der Kristall ist am Benediktushof im Westflügel sichtbar. Für gewöhnlich im Format 50x60 gearbeitet, hat dieses große Format auch eine Vorstellung enttarnt: die Idee des Formats. Die Kreativität kann spirituelle Lehrerin sein.