Sag nicht, dass ich morgen scheide,
denn ich bin noch gar nicht ganz da.
Ich komme gerade erst an mit Lachen und Weinen, mit Furcht und mit Hoffnung
Bitte rufe mich bei meinem wahren Namen,
damit ich all meine Schreie und mein Lachen
zur selben Zeit hören kann,
damit ich sehen kann, dass meine Freude und mein Schmerz eins sind.
Bitte rufe mich bei meinem wahren Namen,
damit ich aufwachen kann,
und das Tor meines Herzens offen bleiben kann.
Das Tor des Mitgefühls.
(Thich Nhat Hanh)
„Ich bin noch nicht da!“ höre ich so oft am ersten Kurstag von Teilnehmern. Oder: „Ich komme gerade erst an!“ - eine Aussage meist am Ende des Kurses, wenn es wieder zurückgeht in den Alltag, nach Hause, wo ich mich manchmal nicht wirklich zuhause fühle und auch mir fremd bin.
Es ist ein tiefsitzendes Empfinden, dass das, was ist, noch nicht das Wirkliche oder Richtige zu sein scheint. Ein Gefühl „noch nicht genug zu haben“ und etwas bekommen oder erreichen zu müssen, wo ich „mehr ich selbst sein kann“. Das Ich, das sich als von allem getrennt wahrnimmt, und der gegenwärtige Moment werden als armselig, dürftig und ungenügend definiert. Die Gegenwart existiert als Defizit. Das wirkliche Leben sprudelt immer wo anders. Es herrscht ein permanenter Zustand von Unzufriedenheit.
Das Leid, welches ein Mensch in einer solchen Situation empfindet, liegt aber nicht an dem Lebensumstand selbst, sondern daran, dass er den gegenwärtigen Moment, so wie er ist, nicht annehmen will, deshalb vor ihm wegläuft oder ihm inneren Widerstand entgegen setzt.
Dieser Widerstand gegen das „Sosein“ des gegenwärtigen Augenblicks bedeutet im Grunde nichts anderes, als sich vor sich selber zu verstecken! Das ist die Gretchenfrage:
Wie viel Verbindung zu dir selbst hast du in deinem bisherigen Leben? Frage dich selbst, wie oft du schon versucht hast, aufrichtig und bedingungslos mit dir, mit deinem Herzen, in Verbindung zu treten.
Wie oft schon hast du dich abgewendet, aus Furcht, etwas Schreckliches über dich selbst zu entdecken? Wie oft warst du bereit, dich selbst im Spiegel anzuschauen, ohne dass es dir peinlich wurde?
Wie oft hast du dich selbst abgeschirmt - hinter einer Zeitung, beim Chatten, durch Fernsehen oder einfach durch Rückzug?
Das Erwachen ist nur möglich, wenn du bereit bist, dich dir selbst zu stellen. Das mag dir als hohe Anforderung erscheinen, vielleicht als sinnlos oder gar unmöglich, doch sie ist unabdingbar.
Wenn du bei der Meditation aufrecht und trotzdem entspannt sitzt, dann bist du nackt. Dein ganzes Sein, dein Herz ist bloßgelegt, vor allem vor dir selbst und vor anderen. Beim stillen Sitzen, indem du dem Atem folgst, wie er einströmt und wieder ausströmt und sich verflüchtigt, stellst du die Verbindung zu deinem Innersten, deinem Herzen her und lässt dich einfach sein. Wie schwierig und fast unmöglich! Aber dann kann es geschehen, dass etwas in deinem Inneren „umkippt“ und eine tiefe Stille und unendlicher Frieden dich erfüllt. Staunend stellst du fest, dass das erwachte Herz „leer“ ist - offen und weit, wo Freude und Schmerz eins, Lachen und Weinen zur selben Zeit wahrnehmbar sind. Dieses erwachte Herz ist reines Mitgefühl, bedingungslose Bejahung. Weich und wund fühlt es sich an.
Wenn du deine Augen für die Welt öffnest, überkommt dich – so paradox es klingt - eine stille Freude und gleichzeitig abgrundtiefe Traurigkeit. Es hat nichts mit äußeren Gründen zu tun: Du bist nicht traurig, weil jemand dich verletzt hat, oder weil du einen Verlust zu beklagen hast. Diese Traurigkeit ist grundlos. Sie rührt daher, dass dein Herz ganz bloßgelegt ist - ungeschützt.
Gleichzeitig entsteht ein tiefes Einverständnis für die Soheit der Dinge! Es ist die Geburt von Gleichmut und Furchtlosigkeit. Es meint nicht Furchtlosigkeit in dem Sinne, dass man keine Angst hat oder dass man zurückschlägt, wenn man geschlagen wird. Es ist die Bereitschaft, dein verwundbares, wunderbares Herz berühren zu lassen. Die Bereitschaft, ohne Abwehr und ohne (Ab-)Scheu dich dir und der Welt zu öffnen, und die Bereitschaft, dein Herz mit anderen zu teilen. Es ist das Leben selbst!
Das bedeutet „Ankommen im Jetzt“!