Stille Nacht
Mensch, erkenne deine Würde!
Du bist der göttlichen Natur teilhaftig geworden,
kehre nicht zu der alten Erbärmlichkeit zurück und
lebe nicht unter deiner Würde.
nach Leo der Große † 461
Wenn es Weihnachten nicht gäbe, würde nicht wenigen Menschen viel Stress um den 24. Dezember erspart bleiben. Allerdings bestünde dann auch nicht die Gelegenheit für das Schöne zu Weihnachten. Und es gäbe nicht die Möglichkeit, den Fokus des eigenen Bewusstseins so verschieben zu lassen, wie es die „Stille Nacht“ ermöglicht.
Denn im Alltag ist dieser Fokus oftmals eindimensional ausgerichtet: auf das Erleben von Stress und Hektik, Sorge und Scheitern, Frustration, Krankheit, Perspektivlosigkeit, Ungerechtigkeit, Angst, Aggression und Ohnmacht. Mitunter ist der Fokus auch gar nicht klar. Da ist nur etwas, was sich dumpf und fremd anfühlt.
Das Leben schrumpft dann auf diesen kleinen Ausschnitt der Wirklichkeit zusammen. Unbestritten ist das zwar alles wirklich, aber das ist nicht die gesamte Wirklichkeit. Zumindest spricht davon die Erfahrung der „Stillen Nacht.“
Innerhalb des christlichen Symbolsystems wird von dieser Erfahrung in unzähligen Bildern gesprochen.
Zu Weihnachten, in der Feier der „Stillen Nacht“, kommt dabei vor allem ein Bild in den Blick: die Geburt des Kindes in der Krippe. Und was von diesem ohnmächtigen Kind erzählt wird, wird eigentlich von jedem Menschen erzählt. Da ist nicht nur Ohnmacht und all das, was Menschen verzweifeln und leiden lässt.
Leben ist Mehr. Von diesem Mehr wird seit Jahrtausenden im Bild der göttlichen Wirklichkeit gesprochen. Wie dieses Kind zugleich ohnmächtig und göttlich ist, ist dies auch jeder Mensch: ohnmächtig und göttlich.
Die Alltagswirklichkeit suggeriert aber, dass das Bild des Göttlichen zwar nett sei, die Wirklichkeit aber nun mal durch die Bilder der Ohnmacht abgebildet wird. Die sei schließlich real. Was wäre aber, wenn der eigenen Erfahrung Vertrauen geschenkt würde, die dieses Wirklichkeitsverständnis infrage stellt? Was wäre, wenn das eigene Bewusstsein auch durch das Bild der Göttlichkeit im eigenen Inneren bestimmt würde?
Innere Bilder besitzen eine enorme Kraft. Sie verändern die Welt. Das geht sowohl in die Richtung Ohnmacht als auch in die Richtung der göttlichen Wirklichkeit. Je nachdem welchem Bild Raum eingeräumt wird, schafft es Wirklichkeit. Und, gibt es nur Grund den Bildern der Angst und Ohnmacht, den Bildern des Scheiterns und der Verzweiflung zu vertrauen? Gibt es nicht auch Grund den Bildern, die von der göttlichen Wirklichkeit sprechen, zu vertrauen?
Das Potential der „Stillen Nacht“ geht jedenfalls in diese Richtung. Es will korrigieren und motivieren. Um auch für jene Seite der Wirklichkeit sensibel zu werden, die das Kind in der Krippe symbolisiert. Wie das konkret gehen kann, die göttliche Wirklichkeit nicht aus dem Fokus zu verlieren oder sie überhaupt in den Blick zu bekommen, zeigt sich in den vielfältigen spirituellen Traditionen. Ich muss wählen, was für mich passt.
Weihnachten ist jedenfalls eine Möglichkeit dafür. „Untiere“ bleiben Menschen trotz allem. Der Blick auf die Gräueltaten in den täglichen Nachrichten zeigt dies überdeutlich. Aber indem der Fokus des Bewusstseins vom Bild der Ohnmacht zum Bild der Göttlichkeit verschoben wird, kann sich das eigene Erleben verändern. Auch das Bewusstsein für die Mitmenschen kann anders werden. Und vielleicht reicht diese Bewusstseinsveränderung auch noch für die tierische Mitwelt aus.
Ochs' und Esel werden's danken. Stille Nacht, heilige Nacht.