Impuls zum Thema "Was ist Wesentlich?"
von Dr. Alexander Poraj
Benediktushof Holzkirchen
"Es gibt eine Menge ignoranter Priester, die ihren Schülern erzählen: ‚Buddha ist das Letztgültige‘…
Wir sollten verstehen, dass sein Leben und Tod sich überhaupt nicht von unserem Leben und Tod unterschieden.“
(Rinzai)
Was ist Wesentlich?
Bevor Sie beginnen nach Antworten zu suchen, spüren Sie bitte der Wirkung dieser Frage nach. Diese und ähnliche Fragen zwingen unser Bewusstsein dazu nach einem „Etwas“ zu suchen. Und je nach religiöser oder kultureller Tradition, verfügen wir über eine große Sammlung an Antworten. Für viele ist immer noch Gott das Wesentlichste. Für andere ist es die Liebe, dicht gefolgt von Freiheit, Gesundheit, Familie, Freundschaften, Erfolg, Beruf oder Geld. Die Auflistung lässt sich ins Endlose fortsetzen, weil in unserer, auf Individualität basierenden Kultur, jede Antwort ernstgenommen werden will, denn von dem geglaubten Über-Etwas, das allen anderen „Etwas“ zu Grunde liegen soll, hängt normalerweise der Sinn und damit unsere Stabilität ab.
Leider streitet man seit Menschheitsgedenken darüber, was dieses Über-Etwas sein soll und ob es denn überhaupt existiert. Der Erfolg des Streites ist mäßig, dafür aber sind seine Nebenwirkungen umso tragischer, da sie bis heute das Leben und die Würde von Millionen von Menschen einfordern. Genau im Namen des Wesentlichen und Wahren, das bestimmte Personen und Gruppierungen glauben, gefunden zu haben, wurden und werden immer noch Kriege geführt und Revolutionen angezettelt, Diktaturen eingesetzt usw. Wir alle tun uns immer wieder zusammen, weil wir meinen, endlich mal das Wahre, Wesentliche und Richtige mit Gleichgesinnten teilen zu können, ja zu müssen und sind ebenfalls sehr schnell der Meinung, wir wüssten es schon, nur sehen es die „anderen“ noch nicht so wie wir und müssen dazu, im besten Falle überredet, sonst aber erzogen oder, wenn das Wahre und Wesentliche es verlangt, sogar gezwungen oder gar eliminiert werden.
Warum ist das so? Weil wir, was die Beschaffenheit der Wirklichkeit angeht, einer Täuschung unterliegen. Worin besteht sie? Sie besteht darin, dem Denken und dem Fühlen derart zu vertrauen, dass wir das Gedachte und Gefühlte mit der Wirklichkeit gleich setzen. Das klingt ein bisschen komisch, besagt aber, dass wir wirklich gänzlich davon überzeugt sind, die Wirklichkeit wäre genauso, wie unser Denken und Fühlen funktionieren. Und wie funktionieren sie? Sie erzeugen ein „Etwas“ und ein „Anderes“, damit auch ein „Gegenüber“ zugleich einen Wahrnehmenden und Sehenden dazu. Sie erzeugen ein „schönes“ und ein „schlechtes“ Gefühl. Mit anderen Worten: Sie vermitteln den Eindruck, die Wirklichkeit bestünde aus an sich unabhängigen Wesen und Gegenständen, denen dann, logischerweise, etwas Wesentliches zugrunde liegen müsste.
Nun aber zeigt die Zen-Erfahrung, dass es so nicht ist. Mehr noch: die Einsicht in die Beschaffenheit der Wirklichkeit, um die es im Zen geht, zeigt, dass es an sich weder ein „Außerhalb“ noch ein „Innerhalb“ gibt; weder ein „Hier“ noch ein „Dort“; weder ein „Noch nicht“ noch ein „Später“; weder „Richtig“ noch „Falsch“; weder „Gut“ noch „Böse“. Warum? Weil das alles die Kategorisierungen des Denkens und Fühlens sind, welche die Wirklichkeit nur „Gestückelt“ betrachten können und sie deswegen auch zerstückeln. Jedes so entstandene „Etwas“ wird dann sofort empfunden und das heißt verglichen und bewertet und in Folge gewollt oder abgewiesen. Das „Wesentliche“ ist dann nichts anderes als der alles rettende Gedanke, dem unser verzweifeltes Denken und Fühlen die Verantwortung für alles überträgt.
Also was tun? Nichts. Dank der unmittelbaren Präsenz stellt sich das Denken und Wahrnehmen ein und im gleichen Augenblick ereignet sich das Gewahrsein des Soseins. Es ist immer schon und immer nur so, wie es im Augenblick ist, bevor wir es zerstückeln, um es zu wissen, zu fühlen und zu verstehen. Es ist weder dies noch jenes, weder wesentlich noch banal. Es ist das eine heilige, unbegreifliche „Ist“. Ein heiliges Sosein, dass sich jeglicher Vergegenständlichung und Wahrnehmung entzieht, obwohl es diese ermöglicht. Es ist das Augenblick für Augenblick sich ereignende frische und unmittelbare Sosein, dem nie etwas fehlte, dem nie etwas zugrunde lag und in dem nie etwas als besser oder schlechter, wesentlicher oder unwesentlicher auszumachen wäre.
Es ist nicht die Antwort auf alle wichtigen Fragen, sondern das Nicht-Aufkommen jeglicher Frage in der Unmittelbarkeit des Ganzen. Aber glauben Sie mir bitte: All das Geschriebene ist es auch nicht und doch kann es gelesen werden.
Benediktushof Holzkirchen