Wenn es doch nur Dauer gäbe …
"Wenn es doch Dauer gäbe ..."
von Alexander Poraj
Zen-Meister und Mitglied der spirituellen Leitung
"Der Durchschnittsmensch, der nicht weiß, was er mit diesem Leben anfangen soll, wünscht sich ein anderes, das ewig dauern soll."
(Anatole France)
Werden wir gefragt, was für uns das Wichtigste sei, so stehen Familie, Gesundheit, Arbeit, Sicherheit und Frieden ganz oben auf der Liste. Und dagegen ist nichts einzuwenden. Diese Wünsche und Werte, gefolgt von vielfältigen und ganz persönlichen Listen und Gewichtungen beinhalten jedoch einen Wunsch, den wir uns selten bewusst machen. Ich nenne ihn den Wunsch nach Dauer. Auch wenn Sie jetzt den Kopf schütteln und sagen, es ist doch jedem erwachsenem Menschen klar, dass wir und alles andere vergänglich ist, so mag diese Einsicht wohl stimmen, gelebt jedoch wird nahezu täglich das Gegenteil.
Warum ist uns die Dauer – als Wunsch natürlich – viel wichtiger als alle anderen Werte und Wünsche? Weil sie, wenn es sie denn gäbe, allen anderen Wünschen und Werten ihre eigentliche Wertigkeit verliehe. Wie denn das? Wir möchten doch nicht gesund werden, um erneut zu erkranken, einen neuen und besseren Job bekommen, um ihn wieder zu verlieren, oder die Person endlich finden, die wir uns so sehr gewünscht haben, um uns erneut zu trennen. Nein, wir möchten, dass sich alle diese Ziele und Wünsche nicht nur gut anfühlen, sondern von Dauer sind.
So gesehen verfolgen wir immer wieder neue Ziele, und zwar nicht deswegen, weil sie an sich wirklich besser wären, sondern weil wir uns von ihnen Dauer versprechen. Wem wir jedoch die meiste Dauer zubilligen, sind wir selbst. Für uns selbst möchten wir wenn nicht ewiges, so doch ein langes Leben in Anspruch nehmen. Wir leben in der hartnäckigen und gleichzeitig unbewussten Annahme, es gehe mit uns und für uns immer weiter. Denn so lange unsere selbstverständliche Annahme „Es geht weiter“ aufrechterhalten werden kann, wird alles andere als „vergänglich“ angesehen, mit Ausnahme von uns selbst, denn für uns geht es ja weiter. Die anderen werden krank. Ich noch nicht. Und wenn ich krank werde, dann wird es schon gut ausgehen. Genau darin ist die unbewusste Annahme und somit auch der Trugschluss schlechthin versteckt: die Flüchtigkeit und Vergänglichkeit betrifft alle und alles, nur uns selbst am wenigsten. Deswegen haben wir nur dann so große Angst vor „tödlichen“ Krankheiten, Ereignissen wie Kriegen oder Klimawandel, wenn sie uns direkt angehen. Was uns nicht betrifft, macht uns auch nicht betroffen. Und so behaupte ich mal, dass wir uns seltener für ein gutes und gerechtes Gesundheitswesen, Klimaschutzmaßnahmen oder Frieden an sich einsetzen, als vielmehr nur dann, wenn mein Gefühl der persönlichen „Dauer“ spürbar angegriffen wird.
Mit welcher Selbstverständlichkeit hören und lesen wir stündlich Nachrichten von unzähligen Umwälzungen und Bedrohungen, die aber alle – Gott sein Dank – woanders stattfinden, so dass wir sie nahezu angstfrei beim Abendessen oder einem Bierchen schauen können. Wir sind also nur dann betroffen, wenn wir aus unserer Annahme von eigener Dauer und Unversehrtheit herausgerissen werden. Sonst betrifft es ja „nur“ die anderen.
Und so gehen wir täglich mit der Sicherheit ins Bett, in ein paar Stunden wieder aufzuwachen und weiter da zu sein. Mit gleicher Sicherheit vertagen wir vieles auf später und machen uns ständig Sorgen und Gedanken über die Zukunft, als wären wir ganz selbstverständlich dabei. Dabei fällt es uns schwer, auch nur einen einzigen Atemzug auszukosten und in seiner wundersamen Länge dabei zu sein. So groß ist unsere Flüchtigkeit. So klein ist in Wirklichkeit unsere Fähigkeit zur Dauer.
Ist das schlimm? Nein. Neu wäre es aber, wenn wir nicht nur die Flüchtigkeit von allem, sondern vor allem unsere eigene endlich mal zutiefst erleben würden. Erst dann und nur dann ereignet sich Gelassenheit und zwar nicht – wie immer noch häufig angenommen – als eine Eigenschaft unseres Ichs, sondern als das Gelassen-werden oder auch Los-gelassen-werden. Mit dieser Gelassenheit ereignet sich Verschwinden und neu Auferstehen immer nur von Augenblick zu Augenblick. Im Zazen vollzieht es sich von Atemzug zu Atemzug und während dieser sich ereignet und nur so lange, wie er sich ereignet. Eben jetzt. Nur jetzt.