Die Feier unserer Geburt aus dem zeitlosen Seinsgrund
Als ich zum ersten Mal nach Japan kam, staunte ich über Bilder von der Jungfrauengeburt von Siddharta, Shakyamuni Buddha. Seine Mutter hält sich in graziöser Haltung am Zweig eines Sandelholzbaumes fest und der kleine Shakyamuni tritt aus ihrer rechten Seite heraus. Seine Mutter soll geträumt haben, ein Bodhisattva (eine Gottheit) gehe in ihren Leib ein. Ihr Schoß blieb unverletzt. Nach der Geburt kam ein alter Mann und weissagte, aus diesem Kind werde eine erlösende Gestalt für die Menschheit erwachsen.
Es überraschte mich dann nicht mehr, als ich in Indien die Geburtsgeschichte von Krishna las: „Das Haupt der Einsiedler ließ Devaki (die Jungfrau) zu sich rufen und sagte: Der Wille der Devas (der Gottheiten) hat sich erfüllt, du hast in der Reinheit des Herzens und in göttlicher Liebe empfangen. Jungfrau und Mutter, wir grüßen dich. Ein Sohn wird von dir geboren werden, welcher der Erlöser der Welt sein wird. Aber dein Bruder Kansa sucht dich, um dich zu töten. Die Brüder werden dich zu den Hirten führen. Dort wirst du einen göttlichen Sohn gebären, und du wirst ihn nennen: Krishna, den Gesalbten.''Später las ich, dass es im ganzen Mittelmeerkulturraum Göttinnen gab, die Jungfrau und Mutter waren. Die Gottessöhne wurden immer von Jungfraumüttern geboren. Horus von Isis, Shakyamuni von Mayedevi und Jesus von Maria – auch die Geburtsgeschichte Jesu folgt also dem alten Mythos.Diese Erzählungen beziehen sich nicht auf geschichtliche Tatsachen. Sie wollen uns vielmehr eine tiefere Wahrheit über uns selbst vermitteln. Es geht an Weihnachten nicht darum, die Geschichtlichkeit der Geburt Jesu zu beweisen. Wer in der Historie stecken bleibt, tötet das Lebendige der Heilsbotschaft. Meister Eckhart fragt daher: „Was hülfe es mir, wenn Jesus Christus aus Gott geboren wäre und ich nicht?“ – Jesus Christus ist der Typus, an dem ich ablesen kann, wer ich bin: Sohn, Tochter dieses Seinsgrundes, den die Christen Gott nennen.Die Geburtsgeschichten verkünden uns eine Botschaft für hier und jetzt und über uns. Es ist uralte religiöse Erfahrung, die wir für unsere Zeit zu deuten haben. Wir feiern an Weihnachten uns selber, unser Leben aus dem zeitlosen Seinsgrund.Der Mythos verkündet allen diese Wahrheit. Es ist der Punkt, an dem schon immer in religiösen Gemeinschaften der Neubeginn des Lebens gefeiert wurde. Die Wanderung der Sonne war der Ausgangspunkt. Gottessöhne wurden mit der Sonne identifiziert. Auch Jesus bekam den Beinamen „Sol invictus – unbesiegte Sonne".Die Nacht ist am längsten, der Tag am kürzesten. Sonne ist Symbol für Licht, das Licht Symbol für unser Wesen. Am Tiefpunkt des Winters kommt die Wandlung. Die Dunkelheit kann das Licht nicht verschlingen. Es breitet sich wieder aus. Der Siegeszug des Lichtes beginnt.Äußerlich kennt der Mensch das seit Urzeiten. Der Kampf zwischen Finsternis und Licht findet sich in den meisten Religionen. Das Licht siegt. Der „Sol invictus", der unbesiegbare Sonnengott, beginnt aufs Neue seinen Siegeslauf. Daher hat auch das Christentum im Jahr 337 nach Christus die Geburt Jesu auf den 25. Dezember gelegt.Das Kind, das an Weihnachten geboren wird, symbolisiert unser wahres Selbst. Das ist die eigentliche Weihnachtsbotschaft. Weihnachten ist die Feier unserer Geburt aus dem zeitlosen Seinsgrund. Meister Eckhart kann daher sagen: „Als ich in meiner ersten Ursache stand, da hatte ich keinen Gott, und da war ich Ursache meiner selbst. … Da wollte ich mich selbst und wollte nichts sonst; was ich wollte, das war ich. … Darum bitte ich Gott, dass er mich Gottes quitt mache; denn mein wesentliches Sein ist oberhalb von Gott, sofern wir Gott als Beginn der Kreaturen fassen." Zu Weihnachten wünsche ich euch eine gute Zeit.Benediktushof
Willigis Jäger