von Dagmar Buxbaum
Zen-Lehrerin der Linie "Leere Wolke"
(Willigis Jäger)
„...darum seid ganz wach,
niemals achtlos,
niemals nachlässig….“
(Abendruf im Zen-Sesshin)
Kennt Ihr das? Man sitzt morgens am Frühstückstisch, spricht das Gegenüber an und diese*r sagt: „Lass mich erst mal wach werden…“ Oder der/die Kolleg*in antwortet morgens am Arbeitsplatz: „Lass mich erst einen Kaffee holen; ich bin noch gar nicht ganz wach…“ Jede/r von uns kennt diese oder ähnliche Aussagen.
Doch: Wie kann man schon unterwegs sein, herumlaufen und noch gar nicht wach sein? Auch im Zen sprechen wir von Wach-Sein, von Erwachen. Welches Erwachen meinen wir hier?
Schlafen – Wach-Sein. Auch in der Natur sprechen wir gerne von Erwachen, vor allem im Frühling, wenn alles aus der Dunkelheit erwacht ins (Sonnenlicht-)Licht.
Geht es im Zen um Dunkelheit? Oder geht es vielleicht mehr um eine Form der Unwissenheit, um ein Sich-Bewusst-Sein, um ein Heraustreten aus der „Dunkelheit“, dem Unbewussten, in eine Klarheit?
Im Zen geht es um ein Heraustreten aus der Einengung der Ich-Struktur, aus unseren vorgefassten Meinungen, unseren Vorstellungen und unseren Konditionierungen. Es geht um das Erwachen in eine Klarheit dessen, was oder wer wir wirklich sind – jenseits all unserer Konstrukte, jenseits von Allem, jenseits von uns.
Ein Erwachen aus „unserem“ Traum, aus unserer Traumumfangenheit. Wir haben so viele Träume, so viele Vorstellungen und Ideen – und verlieren uns immer wieder darin.
Wir leben in der Vergangenheit und in der Zukunft. Aus unserer Zen-Übung – uns als Gegenwärtigkeit zu leben, uns als Gegenwärtigkeit zu erfahren – machen wir häufig wieder ein Konzept, eine neue Vorstellung, einen neuen Traum, den wir dann wieder in schon vorhandene Träume oder Ideen mit einweben.
Wenn wir vom Erwachen sprechen, dann ist dies das Erwachen eben aus diesen Konzepten heraus, in die Realität dessen, was gerade wirklich ist – was sich gerade wirklich ereignet, wie das Leben sich gerade wirklich zeigt, was sich im Augenblick gerade wirklich abspielt.
Wir stellen uns in unserer Zen-Praxis unserem Leben. Wir sind in der permanenten „Übung“: diesem ganzen Geschehen nichts überzustülpen, kein Ich drauf zu setzen.
Wir lassen die Dinge einfach mal so, wie sie sind, ohne immer wieder etwas ändern oder manipulieren zu wollen, ohne es eigentlich ganz anders haben zu wollen.
Oft bekomme ich dann gesagt: „Dann ist Zen ja absolutes Nichts-Tun, manchmal müssen wir doch etwas tun…“
Was wir im Zen praktizieren, ist erstmal dieser 1. Schritt: Erst mal nicht handeln, erst mal wahrnehmen, erst mal hin-fühlen, was hier ist. Nicht sofort in die Handlung zu gehen, nicht alles sofort zu etikettieren. Einfach gelassen zu sein, in diesem Was-hier-erscheint zu bleiben, dies erst mal zuzulassen.
Dann erst kommt eventuell der 2.Schritt: Handeln – oder eben auch nicht. Wir bleiben also genau da, wie sich das Leben gerade zeigt. Je mehr wir dies praktizieren, umso mehr erkennen wir, was wirklich ist und letztendlich auch, wer wir wirklich sind – jenseits unserer Vorstellungen und Meinungen, jenseits unserer Ich-Struktur, die ja letztendlich auch eine Vorstellung ist.
Unser So-Sein wird klar – allein durch dieses Im-gegenwärtigen Augenblick-Verweilen, beziehungsweise unser So-Sein in der Verkörperung als gegenwärtiger Augenblick.
Die Frage im Zen „Wer bist Du?“ hinter all diesen unseren Strukturen tritt immer mehr hervor: Je mehr wir erkennen, dass wir genau diese Vorstellungen, die wir von allem haben – sei dies durch Erfahrung, Erziehung, Gelesenem –, eben nicht sind. Oder nicht nur sind.
Wer bist Du? Wer bin ich? Was macht Dich letztendlich aus? Ohne all diese Strukturen oder hinter all diesen Konzepten? Warum bauen wir so vieles um uns herum auf?
Wir haben Angst. Es gibt uns eine gewisse Sicherheit zu glauben, dass all diese Konstrukte uns halten können, uns eine Identität vermitteln, uns und auch unserem Umfeld ein Ich-Bild geben. Aber was geschieht, wenn etwas Unvorhergesehenes passiert? Was hält uns dann wirklich? Was gibt uns dann wirklich diese Sicherheit, die wir vermeintlich durch unsere Ideen und Konzepte haben?
Die Zen-Praxis – immer nur jetzt, jetzt und wieder jetzt – lässt uns dahin erwachen, wer wir wirklich sind. Wir erwachen in eine unendliche Weite als unendliche Weite und Freiheit; aber nicht, weil wir jetzt tun und lassen können, was wir wollen, sondern als eine Freiheit, die durch die enge Ich-Struktur nicht mehr eingeengt wird, nicht mehr an vorgefassten Meinungen festhält. Da ist plötzlich eine freie Sicht auf die Welt, auf uns. Wir sehen nicht mehr durch eine Brille aus Weltanschauungen und vorgefassten Meinungen.
Was bedeutet nun dieses Erwachen? In der Natur erwacht alles aus der Dunkelheit, aus dem dunklen Boden ins Licht, in die Helle der Sonnenstrahlen und Wärme, ins Leben. Im Zen bedeutet Erwachen – manche sagen auch Erleuchtung –, aus der Dunkelheit und Einengung unserer Ich-Struktur, aus unserer Traumumfangenheit zu treten, hinein in die Lebendigkeit, in das Leben, in eine Offenheit zur Welt, in eine Offenheit zu mir, zum anderen, in eine Offenheit, die wir selbst sind.
In unseren Sesshins rezitieren wir immer unseren Abendruf:
„Eines lege ich Euch allen ans Herz,
Leben und Tod sind eine ernste Sache.
Schnell vergehen alle Dinge,
kein Verweilen kennt der Augenblick.
Darum seid ganz wach,
niemals achtlos
und niemals nachlässig.“
Das bedeutet: Wenn wir Erwachen wollen, müssen wir in jedem Augenblick wach sein, da sein, gegenwärtig sein, im Hier und Jetzt sein. Jetzt, jetzt, jetzt. Das heißt, hier begegnen wir auch dem Paradox des Zen: Die Praxis, die Übung des Immer-Wach-Seins an sich selbst ist gleichzeitig das Ergebnis.
Wenn wir immer wach sind, ist dies auch die Tür zum Erwachen beziehungsweise ist dies auch schon das Erwachen selbst, was wiederum bedeutet: Wir sind Wachheit, wir sind das Erwachen selbst – von Anbeginn gewesen, aber jetzt auch im Erfahren und im Erkennen, in der Verkörperung.