"Wohin ich auch flüchte,
Wasser rinnt im Gefälle und Sand im Stundenglas.
Ich höre die Früchte
Niedertropfen ins Gras.
Kein Windhauch rührt an Apfel und Vogelbeere,
es hat kein pickender Schnabel, keine pflückende Hand erfasst.
Nur die tief in der Frucht erwuchs, die verborgene Schwere
Löst sie tödlich vom Ast.
Aber ist diese Schwere nicht ihr herrlichstes Eigen,
eines Wesen mit ihr,
treulich genährt von dem ewig steigenden Saft in den Zweigen?
Herz, wovor graut es dir?"
(Werner Bergengrün)
Das Gedicht weist ohne Umschweife auf den Grund unserer menschlichen Unzufriedenheit. Es ist die Vergänglichkeit, die in uns bewusst oder unbewusst eine Zerrissenheit, und uns eine Schwere spüren lässt. Nichts können wir festhalten, nichts in Händen halten. Kaum glauben wir etwas erreicht zu haben, schon entschwindet es uns wieder. Aber nicht nur dies, auch das, was wir zu erlangen suchen, liegt nicht in unserer Macht. Sehnsüchte, Vorstellungen, wie etwas hätte gewesen sein sollen, oder wie das Leben sich doch einstellen möge, lassen uns nie zur Ruhe kommen. Was uns gefällt, können wir nicht festhalten, was uns missfällt nicht einfach aus unserem Leben wegschieben. Und doch klammern wir uns an unsere Visionen und an Erlebnissen, malen sie in Bilder, setzen sie in eine Geschichte und übersehen dabei das Gegenwärtige. Diese tut sich in jedem Augenblick in uns auf, überrascht uns. Doch bis wir sie begreifen, ist es schon längst wieder vorbei und wird zur Vergangenheit.
Die Angst vor der unentwegten Veränderung legt sich wie ein Schleier auf unseren Geist und verdunkelt unseren Blick auf das Leben wie es sich gerade im Hier und Jetzt zeigt. Wann werden wir wirklich leben? Wann wird unser Leben voll sein, wenn „kein Vogel oder eine pflückende Hand“ uns annimmt, sondern wir allein in die Schwere des Vergehens sinken? Immer und immer wieder wird diese Last uns erfassen, bis wir uns mit dem unentwegten Wandel selbst wandeln lassen. Daher fragt der Dichter: „Ist diese Schwere nicht ihr herrlichstes Eigen?“ Er weist auf den immerwährenden Rhythmus des Werdens und Vergehens. Wir sollten in diesen Rhythmus des Lebens eintauchen, uns seiner bewusst werden, mit ihm schwingen. Die Vorstellungen werden sich sogleich als Chimären erweisen. Wir können sie ziehen lassen, uns dem Leben hingeben, die Gegenwärtigkeit leben und in ihr die Zufriedenheit erfahren. Gegenwärtigkeit wird nicht durch erfüllte Wünsche genährt, im Gegenteil, diese gleichen den Wolken am Himmel, sie tauchen auf und haben keine Substanz.
Gegenwärtigkeit jedoch führt uns dazu, das, was ist, anzunehmen und zu dem zeitlosen Augenblick zu werden. Damit gleicht unser Leben einem Fluss, der immer derselbe ist, obwohl er sich stets verändert. Dieses Eintauchen in den Lebensfluss, mit jedem Moment zu schwimmen, macht uns lebendig und Zufriedenheit erfüllt uns.