Impuls zum Thema
"Wach sein fürs Leben"
von Alexander Poraj,
spirituelle Leitung Benediktushof
„Er schliff immer an sich
und wurde am Ende stumpf,
ehe er scharf war.“
G. Ch. Lichtenberg
Wach sein fürs Leben - zu dieser Überschrift würde eigentlich ein Ausrufezeichen passen, oder?
Ist es nicht so, dass wir uns häufig selbst zurufen: „Sei doch wach!“, „Sei achtsam!“, „Übe mehr!“, „Lass dich nicht gehen!“ ?
Die Liste dieser Ausrufe ist beliebig fortsetzbar und umfasst alle Lebensbereiche, neuerdings eben auch den sogenannten „spirituellen“ Teil unseres Lebens. Also ist das normal? Nun, wenn unter „normal“ das verstanden wird, was der allgemeinen Norm, also der gelebten Gewohnheit entspricht, dann ja. Und was entspricht derzeit unserer gelebten Gewohnheit? Eine Epidemie der Selbstverbesserungskonzepte.
Schauen wir uns mal kurz diesen „Infekt“ etwas näher an.
Zunächst üben wir uns gegenseitig darin, das Leben in unterschiedlichste Phasen, Bereiche und Abschnitte einzuteilen, denen wir dann unterschiedliche Bedeutung und Ziele zuordnen. Diese wiederum werden untereinander verglichen und mit der Zeit verfügt jeder von uns über eine bewusste wie auch unbewusste Rangliste all dessen, was unbedingt getan und erlebt werden sollte. Unter die Top 10 schaffte es die Spiritualität und unter die Top 3 die Achtsamkeit.
Bedenkt man dabei, in welchem Kontext sich diese beiden Ziele noch vor wenigen Jahrzehnten befanden, nämlich strenge Formen der Frömmigkeit im Falle der Spiritualität und der erzieherisch erhobene Zeigefinger, der Achtung und Beachtung einforderte, so ist das für beide eine bewundernswerte Karriere.
Was würde aber geschehen, wenn postuliert wird, dass das Wachsein vom Leben nicht erreicht werden muss, sondern zum Leben dazu gehört, wie etwa die Wärme zum Feuer?
Was würde mit unseren Zielen und Ranglisten der Wichtigkeiten geschehen, wenn klar wird, dass in Wirklichkeit nichts Bestimmtes unbedingt erreicht werden muss, weil in der Unmittelbarkeit und Einheit allen Lebens das „Be-sondere“ durch unsere Blindheit für das Ganze eben ab-gesondert wird, indem wir der festen Meinung sind, es wäre einzeln zu haben und zwar für immer?
Was würde geschehen, wenn das Leben in sich und aus sich heraus schon Sinn und Ziel wäre, ganz gleich, welche Deutung wir mal wieder gefunden und erfunden haben?
Vermutlich würden wir uns unser tiefes Nicht-Wissen eingestehen müssen und als Folge davon würden wir aufmerksamer werden für das, was jetzt geschieht und so wie es geschieht, um es im Vollzug selber auszukosten und nicht ständig gegen ein in der Zukunft liegendes Ziel eintauschen zu wollen.
Wir würden etwas intensiver erleben und weniger deuten.
Ist das nicht schon die Wachheit?